Haben unsere Politiker nichts daraus gelernt?
von Olivier Bonfond und Laurent Pirnay
Dieser Artikel wurde ursprünglich in der Zeitschrift „Tribune de la CGSP – Mai 2024 (Nr. 27)“ veröffentlicht
Die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten haben sich gerade auf neue Haushaltsregeln geeinigt, die genauso streng sind wie die vorherigen. Man hätte meinen können, dass die Staats- und Regierungschefs aus den 2010er Jahren gelernt hätten. Dem ist keinesfalls so. Nach mehreren Jahren des „Koste es, was es wolle“, in denen die Staaten bedenkenlos Geld ausgegeben hätten, um auf verschiedene Krisen zu reagieren (Gesundheitskrise, Krieg in der Ukraine, Energiekrise, Inflation), wäre es nun an der Zeit, dass die Staaten zu einer soliden Haushaltspoli-
tik zurückkehren und Defizite und Schulden abbauen, da sie sonst von der Europäischen Kommission bestraft werden könnten.
Dieser Kurs wurde allerdings in der Vergangenheit schon oft erprobt, und die Ergebnisse sind bekannt: Die Wirtschaft wird schrumpfen und dies wird die Defizite und die Schulden weiter erhöhen, ganz zu schweigen von den katastrophalen sozialen Folgen, die wahrscheinlich wieder einmal der radikalen Rechten zugutekommen werden.
Neue EU-Regeln, die mit den vorherigen identisch sind
Am 10. Februar dieses Jahres konnte sich der Rat der EU nach zweijährigen Diskussionen auf eine Reform des Stabilitätspakts einigen. Hier und da war von einer Lockerung der alten, geltenden Regeln die Rede. Unter dem Druck Deutschlands und der Niederlande wurden die winzigen Fortschritte, die zur Debatte standen (angepasste Haushaltspläne, die den Besonderheiten und dem Investitionsbedarf jedes Landes Rechnung tragen), beiseite geschoben, um strenge und undifferenzierte Zahlenkriterien in den Vordergrund zu stellen, die jedem Land eine Mindestanpassung des Haushalts auferlegen, die es einhalten muss.
Ohne ins Detail zu gehen, sehen die neuen Regeln wie folgt aus: Länder, die ein Defizit von über 3 % aufweisen, müssen dieses jedes Jahr um 0,5 % senken. Was die Schulden betrifft, so müssen Länder mit einer Verschuldung von mehr als 90 % des BIP diese jedes Jahr um 1 Prozentpunkt senken (0,5 Prozentpunkte für Länder mit einer Verschuldung zwischen 60 % und 90 % des BIP).
Die beiden grundlegenden Kriterien – ein Defizit von 3 % und ein Schuldenstand von 60 % des BIP – werden zwar zunehmend als überholt angesehen, bleiben aber weiterhin voll gültig. Und kein Land kommt daran vorbei, auch nicht die Länder, deren Schuldenstand unter 60 % des BIP liegt. Nehmen wir beispielsweise Polen mit einer Verschuldung von 55 % des BIP, aber einem erwarteten Defizit von 4,6 % im Jahr 2024. Es muss dieses Defizit im Jahr 2025 zwingend um 0,4 Prozentpunkte auf 4,2 % senken.
Hinzu kommt, dass die Anwendung von Sanktionen bei Nichteinhaltung der Regeln verschärft wurde, was in Wirklichkeit darauf hinausläuft, dass diese Reform schlimmer ist als die vorherige. Denn während die vorherigen Regeln – etwas – anspruchsvoller waren, was die zu erbringenden Anstrengungen betraf: niemals wurden Sanktionen verhängt.
Was die Berücksichtigung der notwendigen Investitionen für soziale Gerechtigkeit und den ökologischen Wandel anbelangt, so gilt: weiter so, später sehen wir weiter.
Kürzungen in zweistelliger Milliardenhöhe geplant
Vor diesem neuen Hintergrund sind die Haushaltsanpassungen, die von vielen Ländern gefordert werden, insbesondere von denen, deren Schuldenstand 100 % des BIP übersteigt, enorm.
Belgien (Schuldenstand 106 % des BIP) wird in den nächsten sieben Jahren jedes Jahr weitere 5 Milliarden Euro „einsparen“ müssen, um diese EU-Normen zu erfüllen. Alexia Bertrand, föderale Haushaltsministerin und Großkapitalistin, nutzte ohne mit der Wimper zu zucken die Gelegenheit
und kündigte an, dass Belfius, BNP Paribas und Ethias verkauft werden müssten [1], na selbstverständlich!
Die wallonische Region, die bereits seit 2022 einen strikten Austeritätskurs umsetzt (150 Millionen zusätzliche Kürzungen jedes Jahr), wird ihre „Anstrengungen“ in den kommenden Jahren wahrscheinlich noch weiter erhöhen müssen.
In Frankreich (Schuldenstand 111 % des BIP) hat die Regierung nach der Bekanntgabe eines Defizits von 5,5 %
(150 Milliarden Euro) im Jahr 2023 im Eilverfahren 10 Milliarden Ausgabenkürzungen für das Jahr 2024 und weitere
20 Milliarden für 2025 angekündigt.
Die italienische Regierung (Schuldenstand 140 % des BIP) bereitet zusätzlich zu den geplanten Ausgabenkürzungen einen großen Privatisierungsplan vor. Dies könnte alle betreffen: die Bank Monte dei Paschi, die Fluggesellschaft ITA Airways, die italienische Post, die nationale Eisenbahngesellschaft … Ziel: 20 Milliarden Euro oder 1 % des BIP einnehmen.
Diese Ausrichtung mit Nachdruck anprangern
Diese Ausrichtung ist in vielerlei Hinsicht absurd:
- Eine rein politische Entscheidung. Diese plötzliche Besessenheit für Einsparungen ist einzig und allein das Ergebnis einer politischen Entscheidung. Bis vor wenigen Monaten zwang uns nichts dazu und auch heute zwingt uns nichts dazu. Wenn es beispielsweise morgen zu einer neuen schweren Krise käme, die ein starkes öffentliches Eingreifen erfordern würde, würden diese Regeln sofort ins Wasser fallen. Im Übrigen haben die Staaten entgegen der vorherrschenden Meinung keine Schwierigkeiten, sich auf den Finanzmärkten zu finanzieren. Beispielsweise gibt die Schuldenagentur im Januar 2024 eine 10-jährige Staatsanleihe mit einem Zinskupon von 2,85 % in Höhe von 7 Milliarden Euro aus. Die Märkte boten schnell 70 Milliarden. Einen Monat später, im Februar, gab die belgische Schuldenagentur eine Staatsanleihe (OLO) mit einer Laufzeit von 30 Jahren und einem Zinskupon von 3,5 % im Wert von 5 Milliarden Euro aus. Nach wenigen Stunden lag der Auftragsbestand bereits bei über 62 Milliarden Euro… Da die Nachfrage das Angebot bei weitem übersteigt, könnte man insbesondere von den Verfechtern des Marktes und der Haushaltsdisziplin erwarten, dass Belgien die versprochenen Zinsen senkt, um die Kosten für seine Verschuldung zu senken. Es gibt nichts dergleichen.
- Überholte Kriterien. Es muss daran erinnert werden, dass diese Kriterien (eine Verschuldung von 60 % und ein Defizit von 3 %) wirtschaftlich nicht zu rechtfertigen sind, sie sind über 30 Jahre alt (1992) und der Kontext hat sich radikal verändert. Das durchschnittliche BIP-Wachstum lag damals bei 2 % jährlich, und die Klimafrage stellte sich nicht mit der heutigen Dringlichkeit. Die Beibehaltung dieser Kriterien ist ein schwerwiegender politischer Fehler.
- Ein Mea Culpa mit Täuschung. Viele Entscheidungsträger haben in den letzten Jahren zugegeben, dass die Austeritätspolitik der 2010er Jahre ein Fehler war und die Situa-tion verschlimmert hat. Zitat Jean-Luc Crucke, wallonischer Minister für Haushalt und Finanzen: „2010 und 2011 stellte das Problem dar, weil wir die Schraube viel zu schnell angezogen haben und in eine Austeritätspolitik eingetreten sind, die die Dynamik gebrochen hat (…) Den Dogmen der Haushaltslogik folgend wurde die Lage dadurch viel schwieriger [2] .“ Die Erklärungen und Verpflichtungen der letzten Monate zeigen uns, dass dieses Mea Culpa in weite Ferne gerückt ist…
- „Es geht nicht um Austerität, sondern um Verantwortung“. Da die Regierungen die Tatsache, dass die Austeritätspolitik nachweislich gescheitert ist, nicht leugnen können, versuchen sie vergeblich zu überzeugen, dass ihre Austeritätspläne keine seien. Sie sprechen von verantwortungsvollen Entscheidungen, um echte Zwänge in der Zukunft zu vermeiden, von der Schaffung von Handlungsspielräumen in der Zukunft, von einer Neuausrichtung der Haushaltsentscheidungen, von der Verbesserung der Effizienz der öffentlichen Ausgaben und behaupten, dass diese Entscheidungen keine Auswirkungen auf die öffentlichen Dienstleistungen und das Leben der Menschen haben werden …
- Die Ausgaben senken und gleichzeitig erhöhen – ein absoluter Widerspruch. Parallel zu diesen Vorgaben, die Defizite zu senken, zögern die Politiker nicht zu behaupten, dass Investitionen in die Bildung, in den ökologischen Übergang, in die Digitalisierung, in die Landesverteidigung, in den Kampf gegen soziale Ausgrenzung zu bewahren seien… Kurz gesagt, dass man viel mehr ausgeben muss, während man weniger ausgibt …
- Die Einnahmen zu erhöhen, das kommt Ihnen nicht in den Sinn! Obwohl das Potenzial sehr groß ist (Steuern auf Supergewinne, Steuern auf große Vermögen, Bekämpfung der Steuerhinterziehung, …), scheint kein politischer Wille aufzukommen, die Kapitalbesitzer zur Kasse zu bitten und so die Defizite zu verringern. Wieder einmal sind es die Arbeitnehmer, die dafür bezahlen werden: das Arbeitslosenrecht wird ausgehöhlt, das Renteneintrittsalter angehoben, die Ausgaben für das Gesundheitswesen, den ökologischen Übergang werden zusammengestrichen.
- Die Zeit ist noch nicht reif! Es ist seit langem bekannt und bewiesen: Nicht wenn es schlecht läuft (Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs), ist es an der Zeit, die öffentlichen Ausgaben zu kürzen. Im Gegenteil, gerade in solchen Zeiten sollte man die Beschäftigung (natürlich nicht irgendeine Beschäftigung) durch antizyklische Politik unterstützen. Olivier Blanchard, ehemaliger Chefökonom des IWF, sagt nichts anderes: „Die Wachstumsprognosen für Europa wurden gerade nach unten korrigiert. Man muss also bereit sein, die Wirtschaft weiter zu stützen, auch wenn dies ein höheres Defizit bedeutet [3].“
- Das wird nicht gut gehen. Öffentliche Ausgaben und Investitionen zu kürzen, während sich die europäische Wirtschaft verlangsamt, aus wirtschaftlicher Sicht ist es die schlechteste Wahl. Es wird den rezessiven Effekt verstärken und die öffentlichen Schulden und Defizite weiter ansteigen lassen. Und das umso mehr, als sich alle europäischen Staaten darauf vorbereiten, dies zur gleichen Zeit zu tun. Und dann? Eine neue Runde der Austeritätsschraube? Ein endloser Kreis? Haben unsere Politiker nichts aus den Lektionen der Vergangenheit gelernt?
Nicht der gesunde Menschenverstand regiert die Welt
Trotz Mea Culpa und in völliger Verleugnung der wirtschaftlichen Phänomene beharren die Europäische Kommission, die europäischen Staats- und Regierungschefs und die Mitgliedstaaten auf den Fehlern der Vergangenheit und schreiben sie fest. Welche Schlussfolgerungen sind daraus zu ziehen? Werden die europäischen Völker von Institutionen und Regierungen regiert, die zwar in gutem Glauben, aber völlig blind und schizophren sind?
Oder muss man sich eingestehen, dass weder der gesunde Menschenverstand noch das Allgemeininteresse diese Welt regieren und dass heute wie gestern das Ziel in Wirklichkeit nicht darin besteht, die öffentlichen Finanzen zu sanieren, sondern das Schleifen der erkämpften sozialen Rechte zu beschleunigen und den Interessen der Wirtschafts- und Finanzmächte zu dienen, deren Appetit grenzenlos zu sein scheint? Diese Frage zu stellen heißt, sie zu beantworten.
[1]Le soir, 16.3.2024
[2] Jean-Luc Crucke, RTBF.be , 25 février 2021
[3] Le Monde, 4.3.2024
www.cadtm.org/Retour-en-force-des-coupes-budgetaires-en-Europe
Übersetzung: SiG-redaktion
veröffentlicht bei Sand im Getriebe www.sand-im-getriebe.org download PDF für Flyer uä