Sohn eines Kindersoldaten: Der lange Schatten von Hitlers Volkssturm

Sohn eines Kindersoldaten: Der lange Schatten von Hitlers Volkssturm

Titelbild von Stefan Parnarov auf Pixabay

Mit nur 16 Jahren wurde der Vater unseres Autors Carl Waßmuth im Zweiten Weltkrieg eingezogen. Die Folgen dieses Traumas sind in seiner Familie noch jahrzehntelang zu spüren.
Eine persönliche Erinnerung gegen die derzeitige Militarisierung.

Am 18. Oktober jährt sich die Ausrufung des sogenannten „Deutschen Volkssturms“ zum 80. Mal. Mein Vater, Jahrgang 1928, wurde im Alter von 16 Jahren eingezogen, wie hunderttausende andere seiner Altersgenossen. Von der Hitlerjugend aus ging es für ihn direkt in den Krieg: Er wurde Kindersoldat. Als sein Sohn habe ich wiederum erfahren, was es bedeutet, wenn Menschen im Krieg psychisch schwer geschädigt werden.

UNICEF, terre des hommes und Amnesty International bezeichnen Kämpfer und deren Helfer unter 18 Jahren als Kindersoldaten. Kinder und Jugendliche sind leichter rekrutierbar als Erwachsene, zudem gelten sie als risikobereiter. Ihr Einsatz im Krieg stellt einen schwerwiegenden Missbrauch dar. Die Persönlichkeitsentwicklung von Kindersoldaten wird gravierend beeinträchtigt, posttraumatische Belastungsstörungen sind besonders häufig. Die Folgen eines Traumas sind generell umso größer, je jünger ein Mensch zum Zeitpunkt der Traumatisierung ist. Das Spektrum der psychischen und sozialen Folgen von Traumatisierungen geht weit über Flashbacks hinaus. Und sie werfen ihren Schatten über Generationen hinweg.

Mein Vater hat nie mit uns Kindern über seelische Verletzungen gesprochen. Und immerhin hat er studiert, geheiratet, mit meiner Mutter drei Kinder aufgezogen und wurde 78 Jahre alt. Dennoch blieb er sein Leben lang ein menschenscheuer Einzelgänger. Selbst im Kaufhaus kam es vor, dass Angestellte Abstand nahmen, weil ihnen das fremdartige Verhalten meines Vaters bedrohlich vorkam. Mein Vater hatte einzelne Freunde, aber ein familiärer Freundeskreis kam nie zustande.

Auch ich vermied es schon als Kind, meine Freunde mit nach Hause zu bringen. Die Atmosphäre in meiner Familie war wegen meines sonderlichen Vaters unheimlich. Es ist mir nicht bekannt, dass mein Vater je professionelle Hilfe gesucht hätte. Ohne Auseinandersetzung mit seinen Traumata hätte er allerdings vermutlich besser keine Familie gründen sollen. Vor allem meine beiden älteren Geschwister haben sehr unter meinem Vater gelitten, mit Erreichen der Volljährigkeit zogen sie umgehend aus. Kurz darauf packte auch meine Mutter ihre Sachen. Ich war das Nesthäkchen und hatte zugleich die engste Beziehung zu meinem Vater, und so blieb ich. Doch letztlich hielt auch ich es nicht mehr aus: Noch vor meinen Abiturprüfungen suchte ich das Weite. Mit etwas Distanz verbesserte sich die Beziehung zu meinem Vater wieder, und ich begann, über seine Lebensgeschichte nachzudenken.

Über den Krieg wurde in der Familie geschwiegen

Schon sein Vater, mein Großvater, war als sehr junger Mann im ersten Weltkrieg gewesen. Auf die Frage nach dem Krieg hatte er meinem Vater nur geantwortet: „Der Spieß hat uns erst gesagt, tragt die Schienen da hin. Und dann hat er gesagt: Jetzt tragt sie wieder zurück.“ Es wird aber wohl doch noch etwas mehr passiert sein. Später musste mein Großvater auch noch in den zweiten Weltkrieg ziehen. Von seinen Erlebnissen gibt es keinerlei Berichte, und auch nicht davon, was meinem Vater im Volkssturm widerfahren ist.

Vor dem Einsatz des Vaters am Ende des 2. Weltkriegs war schon der Großvater im 1. Weltkrieg gewesen.

Aber aus irgendeinem Grund hat mein Vater später sein Studium abgebrochen und wurde nach der Heirat mit meiner Mutter Hausmann. Er putzte unsere Wohnung, wusch die Wäsche, kaufte ein, kochte jeden Tag unser Essen und machte mit uns Hausaufgaben. Meine Mutter ging arbeiten und verdiente das Geld. Das hört sich nach einem fortschrittlichen Lebensmodell an, doch es war nicht freiwillig gewählt. Meine Mutter wäre gerne Hausfrau gewesen und hätte lieber mehr Zeit mit uns Kindern verbracht.

In einem anderen Leben wäre mein Vater vielleicht Informatiker geworden, oder Biologe. Er befasste sich mit Quantenphysik und Biologie, bestimmte am Mikroskop Pilze anhand ihrer Sporen, beobachtete den Sternenhimmel durch ein Teleskop. Seine Bibliothek zu Analysis und Algebra wuchs ständig, handgeschriebene Berechnungen füllten Regale. Als Hewlett-Packard 1979 den programmierbaren Taschenrechner HP41C auf den Markt brachte, gehörte mein Vater zu den frühen Kunden.

„Albtraum bei vollem Bewusstsein“: Wenn Soldaten traumatisiert sind

Uns Kindern wurde gesagt, dass er wegen einer früheren Tuberkulose nicht arbeiten könne. Im Rückblick war das wohl nur ein Teil der Wahrheit. Mein Vater hatte sich zwar drei Jahre lang stationär behandeln lassen müssen und verlor ein Drittel seines Lungenvolumens. Dank des Durchbruchs in der Tuberkulosetherapie ab den 1960er Jahren konnte er aber vollständig von der Infektion genesen.

Gegen seine psychischen Probleme halfen Antibiotika allerdings nicht. Ein Versuch von Selbsttherapie war da vielleicht seine Beschäftigung mit Biologie. In der Hitlerjugend war die Rassenlehre der Nazis ein Grundpfeiler seines Weltbilds geworden. Nach der Kapitulation zeigten die Alliierten den Deutschen Fotos und Filme aus den befreiten Konzentrationslagern, und sein Pfeiler stürzte ein. Verhaltensforschung und Molekularbiologie veränderten ab den 60er Jahren die Evolutionsbiologie. Vielleicht half das meinem Vater zumindest auf intellektueller Ebene zu einem besseren Umgang mit dem erfahrenen Missbrauch.

Eine schöne Erinnerung an meinen Vater ist, wie er mir aus ‚Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer‘ vorgelesen hat. Auch der Schriftsteller Michael Ende, Jahrgang 1929, hatte erlebt, wie man ihn mit einer pervertierten Evolutionslehre indoktrinieren wollte. Ende, der zeitlebens Charles Darwin verehrte, beschreibt unter anderem eine Drachenwelt. Dort ist der Zutritt „nicht reinrassigen Drachen bei Todesstrafe verboten.“ Die Drachen leben das Recht des Stärksten gnadenlos aus und trampeln sich gegenseitig nieder. In der Drachenschule sollen gefangene Kinder unter Folter lernen, dass zwei plus zwei fünf ist. Michael Ende erhielt seine Einberufung zum Volkssturm wenige Wochen vor der Kapitulation. Er zerriss das Schreiben und schloss sich dem Widerstand in Bayern an.

Mein Vater glaubte hingegen bis zum Kriegsende an den Führer, was er durchlitt, war für ihn ein Leiden für die gute Sache. Dass sein Selbstwertgefühl lebenslang gestört bleiben würde, wusste er da noch nicht. Oft sind es Momente völliger Ohnmacht, die solche Schäden verursachen. Wenn von den Nazis die Rede war, nannte mein Vater sie stets „diese Bande von Verbrechern“.

Mitglieder des Volkssturms wurden nicht als Soldaten geführt. Es gab auch keine Uniformen für sie. Ich weiß nicht, ob man meinem Vater eine Waffe gegeben hat. Vermutlich nicht, denn nahezu die gesamte Produktion ging an die bereits ausgebildeten Kampfverbände an den Fronten. Auf der Umschlaginnenseite der Soldbücher der Wehrmacht waren ab 1942 die „Zehn Gebote für die Kriegführung des deutschen Soldaten“ eingeklebt. Völkerrechts­widriges Verhalten war demnach strafbar: Der deutsche Soldat solle „ritterlich kämpfen“. Führererlasse setzten diese Regeln außer Kraft, sie standen dem Ziel eines Vernichtungskriegs an der Ostfront im Weg. Mein Vater hatte ohnehin kein Soldbuch bekommen, ihm fehlte somit sogar der nach dem Kriegsvölkerrecht erforderliche Kombattantenausweis. Von irgendeiner Ritterlichkeit im Kampf hat er nie berichtet. Ein halbes Jahr lang irrlichterte er mit seiner Volkssturm-Einheit durch Deutschland und Tschechien, um dann zum Kriegsende in Österreich zu stranden.

Als Mitglied des Volkssturms hatte mein Vater einen besseren Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln als Zivilisten. Als mein verwundeter Großvater im Lazarett im Sterben lag, wurde die verstreute Familie benachrichtigt. Mein Vater trug eine Armbinde mit der Aufschrift „Deutscher Volkssturm“ und erhielt damit als Einziger der Familie einen Platz in einem Zug, der ihn noch rechtzeitig zu seinem sterbenden Vater brachte. Als der Sanitäter meinem Großvater die Augen schloss, sagte er zu meinem Vater: „Diesen Augenblick wirst Du nie vergessen.“ Es blieb nicht das einzige Kriegserlebnis, dass sich meinem Vater tief einprägte. Unvergessliche Momente sollte man in der Liebe erleben, mit lachenden Kindern, in der Natur, im Theater, mit Musik. Nicht im Krieg.

Seit zweieinhalb Jahren erleben wir in Deutschland eine massive Militarisierung. Die Rüstungsausgaben werden immens erhöht, bald sollen atomwaffenfähige Mittelstreckenraketen stationiert werden. Krieg als solcher wird dabei immer stärker als etwas Normales dargestellt. Bildungsministerin Stark-Watzinger plädiert an Schulen für Zivilschutzübungen und ruft Schulen dazu auf, ein „unverkrampftes Verhältnis zur Bundeswehr“ zu entwickeln. Bayern hat die Kooperation zwischen Bundeswehr und Schulen sogar bereits gesetzlich verpflichtend gemacht. In die Schutzzone junger Menschen wird immer tiefer eingedrungen.

Das militärische System von Befehl und Gehorsam scheint mir jedoch denkbar ungeeignet für die Entwicklungsförderung von Heranwachsenden. Das gilt erst recht, wenn es ernst wird mit dem Krieg: Sowohl in Russland als auch in der Ukraine werden 18-Jährige für den Militärdienst erfasst. Obwohl formal volljährig konnten vermutlich viele davon die Entwicklung ihrer Persönlichkeit noch nicht abschließen. Jetzt droht ihnen der Fronteinsatz. In Deutschland dürfen sogar 17-Jährige für den Dienst in der Bundeswehr angeworben werden. Slogans dazu sind: „Mach, was wirklich zählt. Verantwortung übernehmen. Weiterkommen.“

Zwei Weltkriege haben gezeigt, dass im Krieg erlernte Verhaltensweisen oft noch über Jahrzehte die Gesellschaft prägen. Die Probleme in der Aufarbeitung der Gräuel des ersten Weltkriegs waren kaum adressiert, da begann schon der zweite Weltkrieg. Nach 1945 konzentrierten sich die Aufarbeitungsversuche zunächst auf die Schreckensherrschaft der Nazis und den Holocaust. Für die Schwierigkeiten von Tätern und Opfer von Kriegshandlungen gab es weniger Aufmerksamkeit.

Nun durften wir seit 1945 eine lange Phase ohne Krieg erleben – einen viel längeren Zeitraum als etwa zwischen 1918 und 1939. Ich denke, knapp 80 Jahre sind genug, um wichtige Lehren zu ziehen. Eine davon ist, dass wir junge Menschen wirksam vor Krieg und Militarismus schützen müssen. Eine weitere ist, dass die bewusste Erinnerung an die Schrecken des Krieges uns als Gesellschaft vor tödlichem Heroismus bewahrt.

Carl Waßmuth ist Bauingenieur und Autor. Er hat das Bündnis Bahn für Alle mitbegründet und ist Vorstand und Sprecher von Gemeingut in BürgerInnenhand.

Zuerst veröffentlicht:
https://www.berliner-zeitung.de/open-source/sohn-eines-kindersoldaten-der-lange-schatten-von-hitlers-volkssturm-li.2262581

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