Die Attac-AG Europa hat am 6. Mai von 19 Uhr bis 21 Uhr ein Webinar mit Werner Rügemer veranstaltet. Der Attac-Kokreis hatte dazu im Vorfeld an die AG u.a. geschrieben:
“ (…) Durch seine wiederholten verschwörungsideologischen Positionierungen und Zusammenarbeit mit der Partei „die Basis“ steht Werner Rügemer außerhalb des Attac-Konsens. Verschwörungsideologien und denen, die sie verbreiten, darf keine Plattform geboten werden. Attac steht für das Vertrauen in die Wissenschaft und kämpft für eine solidarische und antifaschistische Gesellschaft. Verschwörungsideologien mit antisemitischen Untertönen haben in unseren Reihen und auch bei Attac-Veranstaltungen keinen Platz. Daher fordern wir euch auf, euch statt Werner Rügemer für die geplante Veranstaltung einen anderen Referenten zu suchen. Bitte lasst uns so bald wir möglich wissen, ob ihr unserem Wunsch entsprechen werden“
Der Versuch des Attac-Kokreises, Werner Rügerner auszugrenzen, war aus politischer und zwischenmenschlicher Sicht ein Fehler. Die AG Europa hat bereits kurz dazu Stellung genommen und an Werner Rügemer als Referenten festgehalten, eine längere Stellungnahme hat die AG angekündigt. Letztlich fand die Veranstaltung wie geplant statt, etwa 60 Menschen nahmen teil, darunter auch ein Vertreter des Attac-Kokreises. Ein Mitschnitt des Webinars steht zum Nachhören unter https://attac-perspektiven.de/2025/05/06/eu-2025-souveraenitaet-oder-staerkeren-vasallenstatus-ausweg-aus-der-gefaehrlichen-abhaengigkeit-von-der-usa-2. Die geäußerten Vorwürfe stehen dennoch gewissermaßen im Raum, deswegen nachfolgend dazu eine Einordnung.
Werner Rügemer ist seit Jahrzehnten eine wichtige Stimme der Globalisierungskritik und war Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac, bis dieser seine Arbeit einstellte. Werner Rügemer publiziert umfangreich und unglaublich kompetent und bereichert damit seit Jahrzehnten die emanzipatorischen Diskurse und Bewegungen. Das Silicon-Valley-Modell kritisierte er bereits 1984 („Neue Technik, alte Gesellschaft“, mit einem Interview von Steve Jobs). Von Cross Border Leasing und von Öffentlich-Privaten Partnerschaften erfuhren wir zuerst von Werner Rügemer. Seine Kritik an Beraterfirmen, Rating Agenturen, Union Busting und zuletzt (und mehrfach) an Finanzmarktkonzernen wie BlackRock und Internet-Konzernen wie Amazon, Apple, Google, Microsoft und der Wikimedia Foundation ist gerade aus globalisierungskritischer Sicht wegweisend.
Werner Rügemer scheut die Konfrontation mit der Macht nicht. In den vergangenen 30 Jahren wurde er über zwei Dutzend Mal auf Unterlassung oder wegen Verleumdung verklagt, von Banken, Unternehmen oder Politikern. Rügemer wehrte sich, und so wurden die meisten Ermittlungen gegen ihn eingestellt oder letztinstanzlich zu seinen Gunsten entschieden. Im Jahr 2006 verklagte ihn die Bank Sal. Oppenheim, damals noch die größte Privatbank Europas. Ein Solidaritätsaufruf auch innerhalb von Attac half bei der Finanzierung der Kosten der Klage. Im Jahr 2013 verklagte ihn Klaus Zimmermann, damals Geschäftsführer des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit. Auf Initiative von Elmar Altvater veröffentlichte der wissenschaftliche Beirat von Attac 2014 als Solidaritätserklärung in den „Blättern“ einen offenen Brief an Zimmermann: „Wir halten Rügemers Darstellung für zutreffend! Verklagen Sie uns auch!“ Werner Rügemer gewann nach über fünf Jahren Prozessdauer die Auseinandersetzung.
Der Attac-Kokreis verwendet die Zuschreibung „außerhalb des Attac-Konsens“ und fasst dies gleichzeitig als „darf ab sofort nicht mehr im Rahmen von Attac sprechen“ auf. Zur folgenschweren Feststellung, jemand sei oder bewege sich außerhalb des Attac-Konsens gibt es in Attac kein legitimes Verfahren. Die einfache Verkündung durch den Attac-Kokreis verstößt gegen rechtsstaatliche Grundsätze, die auch eine Organisation wie das Attac-Netzwerk zu beachten hat: Es gibt für den Vorwurf kein Anklageverfahren, das eine Entgegnung und Entkräftung ermöglicht. Es existiert kein legitimes, d.h. unabhängiges Schiedsgericht. Beschuldigten bzw. „Verurteilten“ stehen keine Instanzen zur Verfügung, die rechtsstaatlich legitimiert sind und nach rechtsstaatlichen Grundsätzen verfahren. Die Vollstreckung erfolgt unter Umständen unmittelbar durch technische Macht in Form der Gewalt über die Webseite, Videokonferenzräume und Mailinglisten.
Der Attac-Konsens war nie als Schwert gedacht, mit dessen Hilfe man sich zentral von als unerwünscht empfundenen Mitgliedern trennt. Der Attac-Konsens dient in der Beschlussfindung in Gremiensitzungen dazu, sich auf das zu konzentrieren, was alle eint. Zu Zeiten der Gründung von Attac war das mehr als genug, jedenfalls mehr, als man politisch und organisatorisch bewältigen konnte. Es half Attac, seine Kampagnen zu fokussieren. Was soll passieren, wenn dieses Prinzip auf jegliche Äußerung von Mitgliedern ausgeweitet wird? Wie entwickelt sich Attac weiter? Was passiert mit Mitgliedern, die einen Antrag stellen, der keinen Konsens erreicht: Bekommen sie danach ein Äußerungsverbot?
Es steht seitens des Attac-Kokreises der Vorwurf „wiederholter verschwörungsideologischer Positionierungen“ im Raum. Aber was ist das? Der Begriff ist eine Hülse. Verschwörungstheorien (und Verschwörungsbeschreibungen und Verschwörungsempirie) sind gerechtfertigt, weil es Verschwörungen gab und gibt. Die unterstellte Kombination Verschwörung und Ideologie behauptet etwas Eigenartiges, was genau? Folgt man den Begriffen, möchte demnach jemand aus grundsätzlichen Erwägungen (und dauerhaft) von (bestimmten) Verschwörungen ausgehen? Belege werden dazu nicht geliefert. Das ist keine Auseinandersetzung über Inhalte. Der Vorwurf der Verschwörungsideologie wird hier faktisch als ein pauschales Zensurinstrument eingesetzt.
Des Weiteren gibt es den Vorwurf der Zusammenarbeit mit der Partei ‚die Basis‘. Was genau hier eine Zusammenarbeit (gewesen) sein soll, bleibt unklar. Das ist aber wichtig, denn es ist z.B. ein wichtiger Unterschied, ob ein kritischer Aktionär auf der Hauptversammlung von Rheinmetall spricht, um auf Missstände hinzuweisen oder ob jemand die Politik dieses Konzerns verteidigt. Die AG Europa schreibt dazu:
„Es kann nicht sein, dass eine Person nicht eingeladen werden kann, weil sie auch beim politischen Gegner/der politischen Gegnerin redet. Faschistoide und genuin faschistische Organisationen sind davon natürlich ausgenommen (Werner Rügemer tritt z.B. nicht bei der AfD auf).“
Der Vorwurf der Verschwörungsideologie wird im Weiteren wiederholt und ergänzt um den Zusatz „mit antisemitischen Untertönen“. Antisemitismus ist unbedingt entgegenzutreten. Allerdings ist es bedauerliche Realität, dass Antisemitismus als Vorwurf instrumentalisiert wird, um soziale Bewegungen zu spalten. Die jüngste Antisemitismusdefinition des deutschen Bundestags hat die IHRA-Antisemitismus-Definition als Maßstab. Amnesty International und andere haben sich dazu kritisch geäußert. In der Friedensbewegung wird zu Recht die Frage gestellt, welche Kritik an Israels Regierung noch möglich ist, ohne Gefahr zu laufen, als antisemitisch gebrandmarkt zu werden. Vom Attac-Kokreis wird im Brief (einschränkend) von „Untertönen“ gesprochen. Untertöne sind ein Begriff, der bei Literaturbeschreibungen vorkommt. Im politischen Bereich ist es eher ein Ausdruck von Hilflosigkeit. Man sieht sich außerstande, die unerwünschte Position in den Aussagen des Gegenübers präzise zu identifizieren. Für den solcherart Konfrontierten ist dann die Entkräftung schwer: Wie soll man etwas widerlegen, was gar nicht genau beschrieben ist? So vorzugehen ist allerdings unredlich. In der Erklärung von Attac von 2001 steht: „Für Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Chauvinismus und verwandte Ideologien gibt es keinen Platz.“ Werner Rügemer vertrat zu keinem Zeitpunkt Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Chauvinismus oder verwandte Haltungen.
Bezogen auf den Kokreis stellt sich die Frage, ob Vorstellungen davon, was eine Verschwörungsideologie ist und was nicht, eine Festigkeit erreicht haben, die weltanschauliche, quasireligiöse bzw. ideologische Dimension angenommen haben. Das mag erschrecken, aber auch das wäre für den Kokreis zulässig. Unter „Weltanschaulicher Pluralismus“ hielt Attac 2001 fest:
„Wer bei Attac mitmacht, kann christliche oder andere religiöse Motive haben, AtheistIn, HumanistIn, MarxistIn sein oder anderen Philosophien anhängen. Attac hat keine verbindliche theoretische, weltanschauliche, religiöse oder ideologische Basis und braucht eine solche nicht. Vielfalt ist eine Stärke.“
Dieser Vielfalts-Maßstab, den man für den Kokreis gelten lassen muss, gilt aber auch für alle anderen.
Im Schreiben des Kokreises von 2025 an die AG Europa heißt es weiter: „Attac steht für das Vertrauen in die Wissenschaft.“ Diese Aussage ist in ihrer Einfachheit so wenig emanzipatorisch, dass man staunen muss. In welche Wissenschaft? Es gibt nicht die eine Wissenschaft, dazu sagt die auch Soziologie in Hinblick auf gesellschaftliche Machtverhältnisse einiges. Werner Rügemer hat lange Jahre dem wissenschaftlichen Beirat von Attac angehört, bis zu dessen Selbstaufgabe in 2021. Dieser Beirat mag nicht perfekt gewesen sein, aber man war sich dort bewusst, dass man versuchte, innerhalb der Gemeinschaft von Wissenschaftler*innen bestimmte progressive Positionen zu stärken – gegenüber einer stark von der Privatwirtschaft und/oder von Staaten dominierten und finanzierten Wissenschaft. Wissenschaft entwickelt Atomraketen, Wissenschaft betreibt Gain-of-Function-Forschung zur Weiterentwicklung von Bio-Waffen, Wissenschaft fälscht Fachbeiträge und Gutachten, Wissenschaft pflegt Fachidiotie und übersieht die Ergebnisse multi-disziplinärer Arbeit, Wissenschaft negiert die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit außerhalb von Universitäten, Wissenschaftler*innen treten im Fernsehen auf und sprechen dort mit ihrer akademischen Reputation zu Themen, zu denen sie nie gearbeitet oder veröffentlicht haben. Selbst innerhalb einzelner wissenschaftlicher Fachbereiche ist man sich darüber im Klaren, dass wissenschaftliche Positionen erst durch plurale Diskussionen Bedeutung gewinnen können – und auch dann kommt es immer wieder zu Paradigmenwechseln, in denen das, was Jahrzehnte lang galt, verworfen und überschrieben wird.
Laut Kokreis kämpft Attac für eine solidarische und antifaschistische Gesellschaft. Das ist gut so. Doch die Ausgrenzung langjährig aktiver Mitkämpfender, ohne nachzuweisen, dass ihre Ziele oder Mittel sich fundamental geändert hätten oder sie gar auf die faschistische Seite gewechselt wären – das erscheint uns alles andere als solidarisch. Und wie sieht der Kampf für die antifaschistische Gesellschaft von Attac eigentlich genau aus? Was hat das mit Vorträgen von Werner Rügemer zu tun? Wie genau werden denn faschistische Entwicklungen gestärkt bzw. geschwächt? Welche Rolle spielen die Parteien dabei, welche Rolle neuer Militarismus und Bellizismus, welche Rolle eine zunehmend autoritäre Staatsorganisation? Die Aussage, antifaschistisch zu sein, reicht nicht aus, man sollte auch entsprechend klug handeln. Viele suchen nach einem Rezept gegen das Erstarken der Rechten in Deutschland und weltweit, aber es ist noch nicht gefunden. Die Frage, welcher friedenspolitische Weg der richtige ist, überschneidet sich dabei mit der Suche nach Auswegen aus dem Rechtstrend, weil Rechte auch friedenspolitische Positionen zu ihren Propaganda-Zwecken instrumentalisieren. Werner Rügemer hat sich zuletzt friedenspolitisch geäußert, liegt hier der eigentliche Konflikt? Mit dem jüngsten Schreiben jedenfalls erliegt der Attac-Kokreis der Versuchung, eine begonnene autoritäre Entwicklung innerhalb von Attac fortzusetzen, mit der der Grundsatz der Pluralität verengt wird. Die ursprüngliche Errungenschaft des Attac-Konsenses wird damit weiter entwertet.
Der Kokreis und alle Gremien von Attac sollten die Kooperation und den Austausch unter den Attac-Mitgliedern fördern und sich für eine wertschätzende, solidarische und nicht-hierarchische Debattenkultur einsetzen. Dazu gehört Respekt vor Pluralismus. Demokratische Grundsätze sollten gegenüber Andersdenkenden sowohl innerhalb als auch außerhalb von Attac gelten.
7. Mai 2025
Attac-Regionalgruppe Kassel
Eckard Althaus
Veronika Baier
Frank Cleve
Dani Doerper
Reinhard Frankl
Barbara Fuchs
Martina Fuchs
Christiane Hansen
Elke Hügel
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Henning Ludwig
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Barbara Volhard
Carl Waßmuth
Christine Weber-Herfort
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